Aida, ist das nicht dieses riesige Kreuzfahrtschiff mit dem großen roten Kussmund, das junge, gebräunte, abenteuerlustige Menschen durch die Karibik und das Mittelmeer schippert? Der Kahn, wo man all inklusive Spaß, Unterhaltung und Sorglosigkeit buchen kann? Das Boot, wo großartige Shows, Abenteuersportarten und Parties für jedermann geboten werden? Nun ja, Abenteuer kommt wohl von teuer, und nur weil mein Gehalt nicht für ein Aidaticket ausreicht, will ich doch nicht daheim bleiben. Aber was tun wenn die Kreuzfahrt unerschwinglich ist, und man trotzdem aufregende Urlaubstage verbringen möchte? Da hilft es nur Aida in der Nähe zu suchen, Nil ade, Verona juchhe!
Die italienische A4 zieht sich wie ein langes, graues Band quer von Mailand über Brescia bis nach Venedig. Einzig die Namen der Autobahnausfahrten verheißen Urlaubsstimmung. Ich habe gerade Sirmione entdeckt. Sirmione, das ist doch diese Halbinsel, die wie ein Leuchtturm in den südlichen Gardasee ragt! Sofort habe ich gepflegte Alleen vor Augen, Palmen die sich vom Gegenlicht schwarz, vor der glitzernden Wasseroberfläche wiegen. Aus den Straßencafés dringt fremdländisches Stimmengemurmel und die Straßen sind von venezianisch angehauchten Palazzos gesäumt. Vom tiefblauen Himmel strahlt die Sonne und die Luft prickelt wie Champagner. Das ist bella Italia… Oh, da war schon die nächste Ausfahrt, Soave stand dran. Ach ja, Soave, das ist doch dieser italienische Weißwein, den ich zu Studentenzeiten so geliebt habe! Hänge mit Rebstöcken erstrecken sich links und rechts der Autobahn, Trauben soweit das Auge reicht. Ich schmecke süßen, vergorenen Saft und meine Sinne sind berauscht vom Anblick der Landschaft.
Aber nicht Trauben und Badelust haben mich nach Italien verschlagen, sondern die Kultur. Also geht’s an der nächsten Ausfahrt raus, zuerst durch ein tristes Industriegebiet, vorbei am Flughafen Richtung Verona. Eine große, breite Straße führt direkt zum Bahnhof, und gleich hier, an der Stadtmauer, kann man auch kostenlos parken. Kostenlos ist wichtig, denn die Kultur ist teuer, wenn auch nicht die Eintrittskarte, so zumindest das Dosenbier, das vor Ort verkauft wird. Hinter der Heckklappe des Mietwagens zwänge ich mich schnell in das kleine Schwarze, und dann geht’s im Sauseschritt den Corso Porta Nuova hinunter zur Piazza Bra. Plötzlich und unverhofft stehe ich vor der Arena, 2000 Jahre alte Geschichte taucht wie aus dem Nichts auf. Klar, hier und da bröckelt der Putz ab, und die Rundbögen sind auch nicht mehr ganz vollständig. Aber ich will ja keine moderne Performance erleben, vielmehr interessiert mich altehrwürdige Kultur. Und für die Aufführung selbiger ist dieser Ort wie geschaffen!
Das Erlebnis Aida beginnt nicht erst dann wenn die Musik erklingt, sondern schon beim Ergattern der Eintrittskarten. Menschenmassen drängeln sich im Gewölbe der Arena, um ein Biglietto Gradinata zu erwischen. Gradinata heißt zu deutsch unnummeriert, also freie Platzwahl. Diese freie Platzwahl bezieht sich zwar nur auf die oberen Steinstufen, aber genau dort wollen die Massen auch hin. Hier findet die Party statt, die einen Opernbesuch in Verona zum unvergesslichen Erlebnis macht. Und nur hier hat man unvergleichliche Ausblicke auf die Stadt, sie liegt einem sozusagen zu Füßen. Um mit Goethes Worten zu sprechen: “Hier ist des Volkes wahrer Himmel, hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein…”
Triumphierend schwenke ich meine Eintrittskarte und schlendere nochmals über die Piazza Bra. Vorbei geht’s an der Entrata 1, dem Eingang für die oberen Zehntausend, die sich eine Karte für mindestens 150 Euro leisten können, bis nach ganz hinten, zur Entrata 27. Und während vor den vorderen Eingängen noch kaum jemand wartet, hat hier an der Entrata 27 die Party schon begonnen. Eigentlich ist es noch früh, viel zu früh, die Musik startet erst in zwei Stunden. Aber wer sagt denn, dass man nur wegen Aida in die Oper geht? Hier hält man nicht typisch deutsch Abstand, hier feiert man schon vor dem Eingang oder bleibt gleich zu Hause vor dem heimischen Fernseher. Die Glücklichen, die direkt am Tor stehen, werfen immer wieder sehnsuchtsvolle Blicke durch das schmiedeeiserne Gitter. Sind die Wärter bereits in Sicht, besteht Hoffnung, die Party bald in die Arena zu verlegen? Während die einen schon spähen, und das restliche Publikum mit Späßen unterhalten, versuche ich mir noch schnell ein wenig Wissen über Aida anzulesen. Das hat das Gros der italienischen Gäste nicht nötig, im Sommer steht hier ein Opernbesuch so regelmäßig auf dem Programm, wie bei uns ein Ausflug in den Biergarten. Man erklärt mir auf italienisch und mit vollem Körpereinsatz den Inhalt des Stückes, und wenn ich auch nicht alles verstanden habe, so weiß ich doch, daß es emotional werden wird. Die Atmosphäre berauscht, und das kommt nicht nur davon, daß ein Teil der Gäste mittlerweile selber Musik macht, sondern auch vom schon oben erwähnten Soavewein. In der Oper von Verona trinkt man nicht in der Pause am Bistrotisch ein Gläschen Sekt, hier hat man alles selbst dabei, Wasser, Wein, Paninis, Dolce. Kultur ist gut und schön, aber man will ja dabei auch nicht darben. Plötzlich herrscht Aufregung in der ersten Reihe, es tut sich was. Ein Wärter erscheint und erklärt uns, dass wegen Bauarbeiten Entrata 27 heute nicht geöffnet wird, wir müssen zurück zum Eingang 26. Empörung liegt in der Luft, diejenigen, die glaubten die ersten zu sein, stehen plötzlich ganz hinten in der Schlange. Wie ein wendiges Reptil dreht sich die Menschenmenge um, stürmt los zum nächsten Tor. Mit zwei Schritten auf einmal werden die Stufen erklommen, denn jetzt heißt es schnell sein. Nur ganz oben, in der letzten Reihe, haben die Steinbänke Rückenlehnen, und bei drei bis vier Stunden Kulturgenuss, der mir bevorsteht, kann etwas anlehnen nicht schaden. Außer Atem stürme ich hinauf, und breite meine Decke über zwei Quadratmetern Granit aus. Geschafft, der Platz ist gesichert, nun kann ich endlich einen Blick auf die grandiose Stadt zu meinen Füßen werfen. Alles ist wundervoll beleuchtet, wie schwarze Scherenschnitte heben sich die Häuser vor dem Abendrot ab. In der Arena beginnt die Lightshow. Fasziniert beobachte ich die Szenerie, nicht mal das Donnergrollen dringt in mein Bewusstsein. Ich bin gebannt von all dem Licht ringsherum, dem rötlichen Schimmer der untergehenden Sonne, dem Himmel dessen Farbspektrum von Blau über Violett bis nach Schwarz reicht. Die Kulissen sind vollständig aufgebaut, die Pyramiden glänzen golden auf ihren Sockeln und der Pharao thront majestätisch in der Mitte der Bühne. Doch nicht nur die Augen können sich nicht satt sehen, auch für die Ohren wird einiges geboten. Musiker stimmen ihre Instrumente, Tonfetzen klingen wie aus weiter Ferne zu mir herauf, dazwischen Kinderlachen und lautes italienisches Stimmengewirr. Und immer wieder Donnergrollen und Blitze, perfekt passend zur ganzen Atmosphäre. Ich bin wie betrunken von der Stimmung und nehme die irdischen Elemente, die meinen Opernabend bedrohen, nicht war. Neben mir hat sich eine Gruppe junger italienischer Studenten niedergelassen. Ich beobachte fasziniert die Menschen, die südländische Heiterkeit ausstrahlen, und kann selbst dem fröhlichen Bierverkäufer nicht widerstehen, der mir für fünf Euro eine Dose billiges Bier verkauft. Die Party ist jetzt in vollem Gange und die Zeit bis zum Vorstellungsbeginn vergeht wie im Fluge. Plötzlich erneutes Donnergrollen, Blitze, die nicht von den zigtausend Kameras der anwesenden Gäste stammen können. Der Himmel ist jetzt tiefschwarz, kein Stern ist zu sehen. Die Luft steht, man kann die elektrische Spannung die in ihr liegt fast körperlich fühlen. Ein Sommergewitter, direkt über der Stadt. Doch noch regnet es nicht, nur Wetterleuchten erhellen den Horizont. Die Party verstummt für kurze Zeit als ein Blitz ganz dicht über unseren Köpfen einschlägt, das unheimliche Grollen des Donners folgt auf den Fuß. Keine halbe Minute später herrscht wieder eine ausgelassene Stimmung, der Himmel trägt eben seinen Teil zur Dramatik des Stückes bei. Als jedoch die ersten Regentropfen das Bier verwässern, regt sich leiser Unmut. Schnell werden mitgebrachte Schirme ausgepackt, und für diejenigen, die so unvorsichtig wie ich waren, und keinen Regenschutz dabei haben, schwenken die Bierverkäufer blitzschnell auf Plastik-Regencapés um. Einheitspreis fünf Euro, die sich schnell auszahlen, denn der Regen wird stärker. Geschwind werden Decken gegriffen, und anstatt auf den Steinstufen über den Köpfen ausgebreitet. Kurz darauf kehrt der Optimismus zurück, wieder im Trocknen wird dem Beginn von Aida geharrt. Auch die Wolke hat ein Einsehen mit dem kulturhungrigen Publikum, sie zieht von dannen. Die Musiker kehren in den Orchestergraben zurück, wischen ihre Plätze trocken und stimmen weiter die Instrumente. Die ersten Gäste der nummerierten Plätze erscheinen in Abendgarderobe, und werden zu ihren Plätzen geführt. Das gemeine Volk dagegen stimmt schon mal die ersten Takte an, und bringt die Stimmung auf den Höhepunkt.
Doch plötzlich kommt die kalte Dusche von oben. Die Wolke ist zurückgekehrt, und schickt die ersten schweren Regentropfen vom Himmel. Mit lautem Fauchen zerreißen gleißend helle Blitze die dunkle Nachtluft. Der Donner folgt mit solcher Heftigkeit, daß der Fußboden unter mir vibriert. Und dann öffnet der Himmel seine Schleusen. Fast möchte man meinen, daß er sämtliches Nilwasser auf uns herunter prasseln läßt, um die Zuschauer, die Arena, Aida, die Pharaonen und die Pyramiden in seinen Fluten zu ertränken. Im Nu sind wir – egal ob mit oder ohne Schirm – von Kopf bis Fuß durchnässt. Alles rennt und drängelt unter das schützende Dach. Wer es geschafft hat, kann schon wieder lachen. Aida ist ins Wasser gefallen aber das macht ja nichts, denn eigentlich hat man das Stück schon mindestens dreimal gesehen und die Party vorher war grandios wie immer. Nur die Touristen machen betretene Gesichter, alle anderen schnappen lachend Sack und Pack und platschen fröhlichend pfeifend durch die Wasserlachen der Piazza Bra. Ich mache es wie sie, trage meine Sandalen in der Hand und springe unter Beifallsrufen von Pfütze zu Pfütze. Ich bin auf meine Kosten gekommen, auch wenn das Stück nicht “Aida” sondern “Il Temporale” hieß!