Ein venezianisches Ereignis, aktueller denn je zuvor
Es fällt schwer in der aktuellen Zeit über Themen zu berichten, ohne den Fokus bewusst oder auch unterbewusst auf Corona zu legen. Selbst historische Begebenheiten, die sich längst vor dem Virus zutrugen, verursachen einen unmittelbaren Vergleich mit der sehr speziellen Situation, der wir seit dem Frühjahr ausgesetzt sind. Warum also nicht einmal bewusst die Konfrontation suchen und Parallelen aufdecken? Dazu wollen wir heute tatsächlich einige Jahrhunderte in der Geschichtsschreibung zurückblättern.
Seit sich im Hochmittelalter einige norditalienischen Städte entlang der Küstenlinien zu immer weiter expandierenden, internationalen Handelszentren entwickelten, hob sich neben Genua und Pisa eine Stadt besonders hervor: Venedig. Die Erschaffung einer eigenen Handelsflotte und die enorme Nachfrage im Landesinneren nach Luxusartikeln aus fernen Ländern ließ den Überseehandel florieren. Als man im 12. Jahrhundert dann feststellte, dass im südlichen Deutschland eine fast noch größere Nachfrage als im italienischen Binnenland herrschte, begann sich besonders Venedig mehr und mehr auf den Norden zu fokussieren, während gleichzeitig deutsche Kaufleute ihre Handelskontore an der Adria aufbauten. Regelmäßig nahmen Händler den beschwerlichen Weg über die Alpen auf sich, um am Rialto Seide und Gewürze aus dem Orient zu erwerben. Innerhalb kürzester Zeit schafften es die Venezianer somit, ein gewaltiges Handelsnetz aufzubauen. Es verlieh ihnen eine ungeheure Macht. Schon damals galt Venedig als Hotspot, an dem Menschen aus aller Herren Länder aufeinandertrafen. Heute versammeln sich jährlich Millionen von Touristen aus der ganzen Welt auf dem Markusplatz und schießen Millionen von Selfies aus den Gondeln während der Gondoliere sein übliches „O sole mio“ anstimmt. Doch seit März 2020 herrscht eine beängstigende Stille in den Gassen und Kanälen. Das Surren der vielen Motoren ist verstummt, die Gondeln dümpeln an den Anlegestellen traurig vor sich hin und die Musikergruppen vor den Cafés haben ihre Instrumente in die Koffer gepackt. Im Frühjahr 2020 steht Italien und damit auch Venedig einem Shutdown gegenüber. Die Touristen bleiben aus, die Einwohner Venedigs sind in Quarantäne. Das Corona-Virus hat der „Serenissima“ eine ungewollte Zwangspause eingeräumt.
Für die Stadt selbst keine Neuigkeit: Eine ähnliche Geschichte trug sich hier in der Mitte des 14. Jahrhunderts zu. Als die Pest 1347 in Konstantinopel ausbrach, flohen die Bürger in alle Himmelsrichtungen. Schiffe voller Pestkranker überquerten das Mittelmeer und fanden somit auch ihren Weg in die Handelshäfen der norditalienischen Städte. Venedig, als Drehtür der Mittelmeerschifffahrt, war dieser Gefahr ganz besonders ausgesetzt. Um die Ausbreitung auf die nördlichen Handelsrouten zu verhindern, beschloss man, ankommende Schiffe über vierzig Tage im Hafen festzusetzen. In dieser Zeit durfte nicht von Bord gegangen werden, keiner der Ankömmlinge das Schiff verlassen. Der Italophile unter uns hat längst die Verbindung erkannt: Die Zahl 40, im italienischen „quaranta“ als Grundlage einer frühen Form der „quarantena“ (zu Deutsch „Quarantäne“) war geschaffen. Eine vierzigtägige Abschottung sollte der ansteckenden Krankheit Einhalt gebieten. Offenbar war diese Quarantäne im vierzehnten Jahrhundert aber noch nicht besonders wirkungsvoll – oder die Einhaltung ließ mehr als zu wünschen übrig. Das tragische Ergebnis ist bekannt: Venedig brach unter der Pest zusammen und der schwarze Tod breitete sich bis spät in das vierzehnte Jahrhundert in rasender Geschwindigkeit über ganz Europa aus.
Heute ist vieles anders: Covid-19 ist bei weitem nicht so tödlich wie die Beulenpest und die Quarantäne in unseren Kreisen liegt bei vierzehn statt vierzig Tagen. Dennoch ist es bemerkenswert wie Begriffe, die vor langer Zeit in vergleichbaren Situationen entstanden sind, noch heute unsere Sprache begleiten und nun mehr denn je unserem Alltag angehören.
Übrigens: Die Niederlassungen der Kaufleute in Venedig überstanden die Pest und die Republik Venedig erholte sich in weiten Teilen von der Katastrophe. Noch heute stehen die Bauwerke aus längst vergangenen Zeiten wie stumme Zeitzeugen auf ihren Holzpfählen in der Lagune, bereit dazu Generation um Generation zu überleben. Freuen wir uns also auf die Zeit nach Corona, wenn auch wir wieder die Chance haben „La serenissima“ zu besuchen und Teil dieser geschichtsträchtigen Stadt zu werden.